„Pfarrei im Porträt“

Die neue Sonderbeilage der Mainzer Kirchenzeitung ist online. Viel Spaß beim Schmökern!

Journalistin für Print- und Online-Medien im Rhein-Main-Gebiet

„Pfarrei im Porträt“

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Manche Geschwister können schon als Kinder nicht viel miteinander anfangen. Andere sind bis ins hohe Alter beste Freunde. Zwei Beispiele und Ansätze, was Eltern für eine starke Geschwisterbeziehung tun können.

 


In der Familie von Bernhard (91) und Manfred Stollenwerk (82) gibt es immer noch diese Anekdote, über die bis heute gelacht wird: Mitte der 1930er-Jahre soll das bisherige Einzelkind Bernhard seine Eltern häufig bekniet haben, doch noch ein Geschwisterchen zu bekommen. "Mutter, sind wir denn so arm, dass wir uns kein Kind mehr leisten können?", soll er gesagt haben. Am Geld lag es wohl weniger als an der damals unwägbaren politischen Lage, dass die Eltern zögerten. Doch Bernhards Wunsch wurde schließlich erfüllt: 1938 kam sein kleiner Bruder zur Welt, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte.


Bernhard, der heute in einem Mainzer Seniorenheim lebt und fast täglich von Manfred besucht wird, erinnert sich noch gut an die ersten Ausfahrten mit dem Kinderwagen. Manfred wiederum sind aus der Kindheit Erlebnisse präsent, die er nur mithilfe des starken großen Bruders bewältigen konnte: etwa, als andere Jungen ihn mit Steinen bewarfen, "da ist er dazwischengegangen und hat mich gerettet". Bernhard war auch derjenige, der ihm später bei den Schularbeiten half, der ihn als begeisterter junger Architekt schließlich auch in seiner Berufswahl beeinflusste.
"Wenn man Erwachsene in Deutschland fragt, wie sie zu ihren Geschwistern stehen, sagen über die Hälfte, dass sie ihre Geschwister lieben", schreibt Nicola Schmidt ihrem Buch "Geschwister als Team". Ihre Auswertung einer Statista-Studie aus dem Jahr 2018 zu Kontakten unter Geschwistern ergab, dass sich zwar die meisten regelmäßig nur bei Familienfesten treffen, sich aber fast ein Drittel noch mindestens einmal pro Monat und 17 Prozent sogar täglich bis wöchentlich sehen. "Aber auch jeder Fünfte sieht seine Geschwister "so gut wie nie", schreibt Schmidt.


Bruder und Schwester - das sind die Menschen, die immer da waren, mit denen wir die längste Beziehung unseres Lebens führen. Und die wir uns doch nicht ausgesucht haben. Eine Schicksalsgemeinschaft, deren Gelingen laut Schmidt von drei Dingen abhängt: Temperament, Erziehung und Gemeinsamkeiten, die Geschwister im besten Fall ein Leben lang füreinander interessant machen.
Auch gemeinsam bestandene Krisen spielen eine Rolle. Bernhard Stollenwerk, der in der Hitlerjugend aktiv gewesen war, wurde nach dem Krieg von den US-Alliierten interniert. Niemand wusste, wann er zurückkommen würde. Neun Monate dauerte die Haft. Die Zeit des Vermissens schweißte die Brüder nur noch enger zusammen. An Streitigkeiten in der Jugend können sie sich kaum erinnern. Geschwister, die "in einer prekären Situation", etwa geprägt von einem Krieg oder großen familiären Problemen, groß werden, "haben gar keine Möglichkeit, miteinander in Konflikt zu kommen, weil es rein ums Überleben geht", so Nicola Schmidt. Der Raum für Streit, er bleibt schlicht nicht.
Manfred und Bernhard blieben sich nah, obwohl ihre Lebenswege sich unterschiedlich entwickelten: Der Ältere reiste als selbstständiger Architekt um die Welt und blieb unverheiratet, der Jüngere wurde sesshaft, leitete ein Bauamt und gründete eine Familie. "Wir haben uns, wenn Bernhard im Ausland war, immer eifrig Briefe geschrieben." Jeder habe Interesse an der Welt des anderen gehabt. Als Bernhard vor drei Jahren in seiner Aachener Wohnung stürzte und dort nicht mehr bleiben konnte, holte Manfred ihn in seine Nähe.


Zusammenhalt, der keine Selbstverständlichkeit ist, wie die psychologische Beraterin Imke Dohmen von "Mutterhelden" weiß: "Spätestens im Erwachsenenalter erfährt man, ob man sich wirklich mag oder nur verwandt ist. Geschwister sind individuelle Menschen und müssen sich daher auch nicht automatisch lieben." Viele Geschwister entfremden sich voneinander. Wenn Konflikte aus der Kindheit nicht bewältigt werden und im Erwachsenenalter weitergeführt werden, kann die Beziehung zerbrechen.
Problematisch werde ein eher distanziertes Verhältnis meist in zwei Fällen, sagt Susann Sitzler, die das Buch "Geschwister. Die längste Beziehung des Lebens" geschrieben hat. Zum einen, wenn die Eltern den Geschwistern eine Nähe zueinander aufzwängen. Beispielsweise, in dem sie sie auch als Erwachsene ständig voreinander verglichen, etwa "Dein Bruder wurde schon wieder befördert, warum du nicht? - Deine Schwester hat schon zwei Kinder, wann ist es bei dir soweit?" Da komme es leicht zu Ärger gegenüber dem scheinbar "vorbildlichen" Geschwister. Dann sei es einfacher, die Wut gegen den Bruder oder die Schwester zu richten als gegen die Eltern.
"Der zweite Fall ist, wenn die Eltern pflegebedürftig werden oder sterben", erklärt Sitzler. Dann müssten Geschwister "oft unter Druck und in sehr kurzer Zeit wichtige Entscheidungen gemeinsam treffen". Dabei könnten die alten Rollenmuster wieder aufbrechen - erst recht, wenn man das Gefühl habe, dass ein Geschwister von den Eltern immer bevorzugt worden sei. "Häufig begegnen sich dann erwachsene Geschwister wie zornige Kinder", beobachtet die Autorin.


"Ein Elternhaus, was jeden liebt, wie er ist, und auffängt, ist mit Sicherheit eine gute Basis", findet auch Beraterin Dohmen. Das können die Brüder Stollenwerk bestätigen: "Unsere Mutter hat keinen dem anderen vorgezogen", erinnert sich Bernhard, "und sie hat ihre Liebe zu uns offen gezeigt."
Doch was kann man tun, wenn man unter einem distanzierten Verhältnis leidet? Ist eine Annäherung noch möglich? "Das ist immer einen Versuch wert", findet Nicola Schmidt. "Es ist wichtig, mit einem inneren 'Ja' auf den anderen zuzugehen. Nicht mit Vorwürfen oder alten Geschichten, sondern mit der ehrlichen Frage: 'Wie siehst du das? Wie war das für dich? Ich habe das Bedürfnis, das zu klären.'" Wenn das nicht möglich sei, könnten die entzweiten Geschwister immer darauf zurückgreifen, dass sie den anderen nicht unbedingt brauchten, um ihre Seele zu erleichtern. "Wir können auch einen Brief schreiben oder in einem therapeutischen Setting alte Themen bearbeiten", erklärt Schmidt. Nachweislich helfe das mehr, "als es einfach aufzugeben, weil der andere nicht die gleichen Bedürfnisse hat wie ich".


Oft sind es auch Notsituationen, die ein neues Aufeinanderzugehen ermöglichen - oder das bestehende Band weiter festigen. Im Binger Seniorenstift St. Martin eilt Brigitte Grund (68) mit einer vollen Kaffeekanne durch den Gemeinschaftsraum. "Na, mein Lieber, möchtest du eine Tasse?", fragt sie fürsorglich ihren jüngeren Bruder Jakob Götze. Nach drei Hirnschlägen lebt der 62-Jährige hier, wird oft von Brigitte besucht. "Unsere Mutter", erzählt Brigitte und rührt in ihrem Kaffee, "starb sehr früh, damals war ich neun Jahre alt und Jakob erst drei." Auf dem Sterbebett bat sie die Tochter, sich "immer gut um Jakob zu kümmern". Zwar hätten sie später "eine wirklich gute Stiefmutter bekommen, die uns annahm wie eigene Kinder und mich wieder mehr Kind sein ließ" - verantwortlich fühlt Brigitte sich für Jakob aber bis heute.
Die frühe Verantwortung prägte sie fürs Leben, das Kümmern liegt ihr im Blut: Viele Jahre arbeitete sie als Köchin in einem Flüchtlingsheim, später in einem Abschiebegefängnis. Privat engagierte sie sich in vielen sozialen Bereichen, ist etwa im Beirat des Seniorenheims aktiv.

 

Jakob Götz konnte sich von Kleinauf auf seine Schwester Brigitte Grund verlassen (Foto:EF).


Jakob blieb nicht immer der kleine Bruder, er gab auch etwas zurück. Ihren eigenen Kindern war er wie ein großer Bruder, half im Betrieb ihres Mannes mit. Und war ihr eine "große Stütze", als sie vor einigen Jahren Witwe wurde. Eifersucht habe die Erziehung des Vaters verhindert: "Er hat mir nie das Gefühl gegeben, dass ihm Jakob als Stammhalter wichtiger gewesen wäre." Ihr Rezept für eine gute Geschwisterbeziehung? "Man muss das Verhältnis pflegen. Wir haben viele gemeinsame Urlaubserinnerungen, wir sind füreinander da und waren nie zu weit voneinander entfernt."

 

 

 

Dieser Text erschien am 9. Januar 2020 bei der Katholischen Nachrichtenagentur.

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