Drucken

Interview mit AndréThielmann vom Projekt "Unsichtbar", das gegen Menschenhandel kämpft


Deutschland ist für viele Menschen in den neuen EU-Ländern ein Ort der Hoffnung, wo es Beschäftigung und Zukunft gibt. Immer mehr kommen, um hier zu arbeiten. Damit im Zuge der sogenannten „Armutsmigration“ kein Missbrauch der deutschen Sozialsysteme entsteht, will die Bundesregierung mit Fristen für Arbeitssuchende und Einreisesperren reagieren.

Dabei wäre es eine wichtigere Aufgabe, Wanderarbeiter in deutschen Betrieben vor Ausbeutung zu schützen, sagt André Thielmann vom Projekt „UNSICHTBAR – Bündnis gegen Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung“ bei den Migrationsdiensten der Diakonie Wuppertal. Im Interview berichtet er von den Ausmaßen der Ausbeutung und von Möglichkeiten, sie zu bekämpfen.

In der aktuellen Diskussion um die „Armutsmigration“ aus den neuen EU-Ländern nach Deutschland hat Innenminister Thomas de Maizière auch die Ausbeutung der Wanderarbeiter und den sogenannten „Arbeitsstrich“ angesprochen. Wie akut ist dieses Problem?

In Nordrhein-Westfalen etwa ist das Phänomen „Arbeitsstrich“ relativ weit verbreitet. In vielen Städten des Ruhrgebiets etwa gibt es Straßenzüge, die inzwischen dafür bekannt sind, dass dort zu bestimmten Uhrzeiten große Gruppen von Menschen stehen, um für Tagesjobs abgeholt zu werden. Viele Wanderarbeiter kommen mit der falschen Vorstellung nach Deutschland, dass es ein ordentliches Land sei, in dem so etwas wie Arbeitsausbeutung nicht vorkommt. Das stimmt aber leider nicht. Häufig werden sie zu niedrig bezahlt oder erhalten ihren Lohn gar nicht. Durch die Anonymität dieser Jobs ist die Gefahr besonders hoch, dass die Arbeiter betrogen werden.

Was sind die Hauptprobleme, mit denen Wanderarbeiter sich an Sie wenden?

Viele dieser Menschen sprechen kaum deutsch und kennen ihre Rechte nicht. Die Ausbeutung zeigt sich etwa bei den Arbeitszeiten: Häufig müssen sie wesentlich mehr Stunden arbeiten, als es das deutsche Arbeitsrecht vorsieht. Das bleibt zunächst oft unbemerkt, weil diese Menschen es aus ihren Herkunftsländern oft gewohnt sind, länger zu arbeiten.

Hinzu kommen Sicherheitsstandards, die von den Arbeitgebern nicht eingehalten und kommuniziert werden. Häufig haben die Arbeiter auch keine richtige Krankenversicherung, sie werden in die Scheinselbständigkeit gedrängt oder erhalten nicht den vereinbarten Lohn.

Die Ausbeutung beginnt aber oft schon, bevor die Menschen überhaupt hier sind. Einige Vermittlungsagenturen nehmen ihnen viel Geld ab für die Arbeitsbeschaffung und die Papiere, die sie in Deutschland brauchen. Da wird für eine Wohnsitzanmeldung schon mal 100 Euro verlangt – etwas, das eigentlich vor Ort kostenlos geregelt werden könnte.

Ich würde zwar behaupten, dass die meisten Arbeitsverhältnisse in Ordnung sind. Aber es gibt  Studien über die Situation von Saisonarbeitern aus dem Jahr 2001, in denen bereits Missstände aufgeführt sind, an denen sich bis heute nicht viel geändert hat: Zu wenig Lohn, extrem lange Arbeitszeiten und schlechte hygienische Bedingungen in den Unterkünften.

Welche Branchen sind besonders betroffen?

Vor allem das Baugewerbe und die Landwirtschaft, in Nordrhein-Westfalen besonders auch die fleischverarbeitende Industrie. Wir haben hier viele große Schlachtbetriebe, die teilweise tausende ausländische Menschen beschäftigen und sie nicht selten ausbeuten. Belgien, die Niederlande und Frankreich haben sich über die deutschen Schlachtbetriebe wegen Lohndumpings daher bereits 2013 bei der EU-Kommission offiziell beschwert. Verbreitet ist die Ausbeutung auch in der Gastronomie, im Hotelgewerbe, im Pflegebereich und bei privaten Firmen, die Altkleider-Recycling betreiben.

Wie können sich Wanderarbeiter mit Ihrer Hilfe gegen Ausbeutung wehren?

Ganz wichtig ist, dass sie ihre Arbeit genau dokumentieren: Wie viele Stunden waren sie wo tätig? Hilfreich sind auch Fotos vom Arbeitsplatz und den Unterkünften, die Aufschluss über die Gesamtsituation geben. In vielen Fällen reicht es schon, wenn wir mit den Arbeitgebern Rücksprache halten, um auch ihre Sicht zu erfahren. Wenn die sehen, dass die Arbeiter jemanden an ihrer Seite haben, lenken sie schnell ein. Niemand hat gern den Zoll im Haus. Da geht es meistens um Probleme wie mangelnden Lohn. Wenn wir aber Indizien dafür haben, dass Gewalt, aggressive Täuschung und Drohungen im Spiel sind, schalten wir Polizei und Zoll ein. Hier ist die Schwelle zum Menschenhandel überschritten.

Problematisch für unsere Arbeit ist es, dass viele Wanderarbeiter aus Angst um ihren Job nicht für ihre Rechte kämpfen wollen. Diese Alternativlosigkeit wird von besonders von Subunternehmern gern ausgenutzt. Wer sich beschwert, dem wird gesagt: „Wenn es dir nicht passt, dann geh doch!“ Diese Menschen haben aber in ihrer Heimat noch viel weniger Aussicht auf Arbeit, darum akzeptieren sie niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen.

Die CSU hat sich der Forderung „Wer betrügt, der fliegt“ in die Debatte eingebracht. Haben Sie bei Ihrer Arbeit Migranten erlebt, die das deutsche Sozialsystem ausnutzen?

Wir haben bisher nichts dergleichen festgestellt. Offizielle Zahlen zeigen übrigens, dass weit über 90 Prozent der Osteuropäer, die herkommen, tatsächlich in einem Arbeitsverhältnis stehen. Zur Debatte gehört auch, dass es in Ländern wie Bulgarien und Rumänien inzwischen kaum noch Fachkräfte gibt, während wir von der Zuwanderung profitieren. Das sagt nur keiner, genauso wenig wie das Problem der Ausbeutung noch zu selten aufgegriffen wird.

Welche konkreten politischen Schritte müssten getan werden, um die Ausbeutung einzudämmen?

Zunächst müsste der Zoll personell aufgestockt werden, sodass die Betriebe stärker kontrolliert werden könnten. Die Zollbeamten sollten auch für das Thema Ausbeutung sensibilisiert werden. Ihre eigentliche Aufgabe ist es ja, Schwarzarbeit aufzudecken – was aber schnell dazu führt, dass die Wanderarbeiter nur als Täter betrachtet werden und nicht als die Opfer der Ausbeutung.

Dann könnten Betriebe gesetzlich dazu verpflichtet werden, Vorschriften in mehreren Sprachen bereit zu halten, ebenso wie Infos über Gewerkschaften und Beratungsstellen. Und: gerade im Bereich der Saisonarbeit darf es keine Ausnahmen vom Mindestlohn geben. Da muss man an die gesellschaftliche Verantwortung von Arbeitgebern und Konsumenten appellieren. Dem Verbraucher muss klar sein: Wenn etwa Obst und Gemüse sehr billig sind, dann hat schon jemand anderes dafür bezahlt – nämlich der, der nicht den angemessenen Lohn dafür erhalten hat.

Info:

André Thielmann, Jahrgang 1980, ist Diplom-Soziologe und Mitarbeiter beim Projekt  „UNSICHTBAR – Bündnis gegen Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung“.

Das Projekt der Diakonie Wuppertal wird im Rahmen des XENOS-Programms „Integration und Vielfalt“ durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie den Europäischen Sozialfonds gefördert. Es ist wie die gleichnamige Initiative in Berlin-Brandenburg und der „Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen e.V.“ (EVW) in Rheinland-Pfalz eine Beratungsstelle für Migranten, Wanderarbeiter und Flüchtlinge in Deutschland. Darüber hinaus bietet „UNSICHTBAR“ Schulungen und wissenschaftliche Studien zum Thema Menschenhandel an, die sich unter anderem an Behörden und bestehende Beratungseinrichtungen für Migrant_Innen richten.

Dieser Text erschien am 09.09 2014 bei der Katholischen Nachrichtenagentur und wurde von verschiedenen Medien verwendet.
Cookies erleichtern die Bereitstellung unserer Dienste. Mit der Nutzung unserer Dienste erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden.
Ok